Neue Industrielle Kooperation

Zusammenlegung von Geschäftsbereichen

Rainer Nowotny
29.11.2021

Selbständigkeit sichert Innovationen am Standort.

Wir brauchen nicht nur Produktion, wir brauchen industrielle Innovation.

Es gibt genossenschaftliches Konsumieren und Beschaffen, es gibt genossenschaftliches Sparen und Finanzieren, es gibt genossenschaftliches Nutzen und Wohnen, es gibt genossenschaftliches Besitzen und Nießen, und es gibt Arbeits- und Industriegenossenschaften. Letzteren gilt unser Interesse.

Arbeitsgenossenschaften des Handwerks von Elektrikern bis zu Metzgern, sowie genossenschaftliche Zusammenschlüsse von Advokaten, Apothekern, IT-Spezialisten usw. sind feste Bestandteile des Überlebenswillens kleinerer Selbständigkeiten. Wir als Industriegenossenschaften haben uns der Selbständigkeit von Produktionsstandorten verschrieben, die Grundlage eines Umbaus der Wirtschaftsstruktur sein kann.

Josip Broz Tito wollte die Idee der Assoziation freien Produzenten umsetzen, indem die Fabriken kooperativ zu führen sind und Eigentumsrechte ausschließlich Resultat von Arbeit sein sollen. Damit wäre die Induktivität des Eigentumübergangs gebrochen.

Die Vorbilder des Flammersfelder Hilfsvereins, des Hedderdorfer Darlehnskassenvereins und der Rheinischen Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank, sowie die Genossenschaftsbank-Ideen von Hermann Schulze-Delitzsch und Pierre Proudhon wurden in den regionalen Raiffeisen- und Volksbanken auch außerhalb Deutschlands umgesetzt, die sich in überregionalen Kooperationen vereinten. Innerhalb der Kooperationen gründeten sich einzelne Untergruppen als Marktteilnehmer für Bausparverträge, Versicherungen und ähnliches heraus, die exklusiv diese Geschäfte von den regionalen Banken übernehmen. Diese sind noch heute erfolgreiche Fallbeispiele, wie selbständige genossenschaftliche Einheiten Marktzusammenschlüsse organisieren.

Doch lohnt sich IMMER ein weiter Blick in die Geschichte. Konnten genossenschaftliche Strukturen früher wirtschaftlich prosperieren?

Historische Vorbilder kooperativen, genossenschaftlichen Arbeitens

Eid der Kaufleute

Im Jahre 1138 zerstörte Pribislaw die (slawische) Burg Liubice = Alt-Lübeck. Adolf II. von Schauenburg, nach dem er Pribislaw verjagt hatte, gründete 1143 auf dem Werder das "neue" Lübeck. Dieses Jahr und dieser erste deutsche Ostseezugang gilt als Ursprung der Hanse (*1). Doch eigentlich war es der Beginn einer Schwurgenossenschaft von Kaufleuten mit dem Ziel der Gleichstellung. Im neuen Lübeck siedelten sich niederrheinische, sächsische und friesische Koggenbauer, Seeleute und Kaufleute an, initiiert durch einen zusammenbrechenden Englandhandel infolge von Umweltkatastrophen am Unteren Rhein.

Es lockte der Ostsee-Fernhandel zu den Reichtümern über Reval, Riga und Nowgorod: Getreide, Holz, Wachs, Felle und Pelze, der lange den „Guttensern“ also Gotlandkaufleute vorbehalten war. Doch jede Reise barg ein erhebliches Risiko für Leib und Güter. So schlossen sich Personenvereinigungen unter Eid für gegenseitigen Schutz und Hilfepflicht unter den Kaufleuten. Dieser Eid, sie nannten sich Gilde, schloss auch die Fürsorge bei Schiffbruch, Verarmung nach Raub, Brand und Schicksalsschlägen ein.

Kern einer auf Eid gegründeten Genossenschaft war nicht nur das gemeinsame Handelsinteresse, sondern die gegenseitige Treue und Wahrung der Friedensordnung.

Fahrgenossenschaften zum Fernhandel verbanden nordische und europäische Rechtstraditionen, denen die Gilde der Guttenser und die dänische Knutsgilde vorangingen.

Das Aufkommen der Patriziergesellschaften im 13. Jhd, die vornehmlich die städtischen Reichen verkörperten und als Vereine existierten, löst den Genossenschaftsgedanken im Fernhandel ab. Sie verkörpert die städtische Oberschicht ohne den Treueschwur auf gefahrvollen Fernhandelsreisen, abgelöst in gefahrlosen Fernhandelsgeschäften, in denen einziges Risiko der Verlust von Kapital durch minderwertige Geschäfte war. Die Hanse wandelte sich vom genossenschaftlichen Eid oder Schwur gegenüber der Unbill vieler Gefahren hin zum vorteilsbringenden Verein von Kapitalinteressen und der Herausbildung des Patiziats. Die Vitaleinbruderschaft (2) im 14. Jhd kann als anarchistisches Aufbegehren dieses Wandels angesehen werden (3). 1494 schloss Zar Iwan III. das Hansekontor in Nowgorod.

Verteidigungsgemeinschaft freier Bauern

Im 15. Jhd., Polen und Litauen dehnten sich von der Ostsee zum Schwarzen Meer, war nach dem Tod Amir Timurs (*4) das Mündungsgebiet des Dnjeprs, nördlich der Krim im Zuge von Plünderungen und Masakern nahezu unbewohnt. In dieser fruchtbaren Steppe siedelten Abenteurer, Armutsflüchtlinge aus Großpolen und Großlitauen, entlaufene russische Leibeigene sowie kriminell oder religiös Verfolgte.

Sie gründeten einen neuen Stand und nannten sich Kosaken, freie Steppen-Bauern in einem Militärbündnis vereint. Alle waren gleich, jedoch die Unverheiratete bildeten eine herrschende Kaste, was jede Erbfolge ausschloss. Ihre Militärvorgesetzten – die Hetmane wurden stets gewählt.

Aufgabe dieser Kosakentruppen war die Verteidigung der Kosakensiedlungsgebiete zunächst gegen die Tataren aus dem Süden, zunehmend gegen Polen und Litauen. Immerhin fast zwei Jahrhunderte kann diese kooperative Verteidigungsgemeinschaft erfolgreich genannt werden,. Erst nach einem niedergeschlagenen Aufstand gegen Polen 1648-1651 unter Hetman Bohdan Chmelnyzkyj schlossen sie 1654 ein Militärbündnis mit Russland und gaben damit ihre Unabhängigkeit auf.

Interessengemeinschaft der Teerfarbenfabriken

1903 war das Bestreben der sich seit 1865 rasant entwickelnden Chemieunternehmen zur Gemeinschaftsgründung von selbständigen Unternehmen gereift. Alle dachten an Interessen-Gemeinschaften unter Aufrechterhaltung größtmöglicher Selbständigkeit, hatten doch dieser Unternehmen neben Teerfarben, Düngemittel und anorganische Säuren zunehmend einen Schwerpunkt in synthetische Arzneimittel, nachdem Paul Ehrlich die Chemotherapie eingeführt hatte.

1904 schlossen sich die Farbwerke Cassella, Teerfarbenwerke Meister Lucius & Brüning (später Hoechst) zusammen, kurz darauf stieß die Chemische Fabrik Kalle dazu. Gleichzeitig schlossen sich BASF, Bayer und Agfa zusammen. Die führenden Entwickler der chemischen Industrie erkannten sehr bald, dass ein Konkurrenzkampf untereinander die technische und technologische Weiterentwicklung behindern würde, hingegen diente bereits der enge Erfahrungsaustausch zwischen BASF und der Teerfarbenfabrik Meister Lucius &Co. bei der Indigosynthese als Vorbild für ein gemeinsames Anliegen

Die Vorstände Glaser, Brunck, von Rath, von Brüning, von Martius drangen auf noch mehr Zusammenschluss, da die chemischen Fabriken sich bedroht sahen durch die gegen sie "gerichtete Vereinigung der Lieferanten unserer Rohmaterialien" und "in unangenehmer Weise die Zusammenschlüsse von Abnehmern unserer Fabrikate" (5). Noch weiter ging Carl Duisberg, der das "Zusammenwerfen des Gesamtbesitzes der verschiedenen Firmen" anstrebte (6).

Weiter wurde neben dem außer Landes bringen von Erfahrungen und dem einhergegenden Verlust des Vorsprungs und der Überlegenheit erkannt: "endlich verlieren wir unsere beste Kraft im unproduktiven Streit auf dem Patentgebiet. […] Wenn erreicht werden könnte, dass wir durch [...] Zusammenschluss die Früchte unserer [Entwicklungs-] Arbeit [...] erhalten könnten, dann würde [...] der Einzelne ein gewisses Opfer durch Verlust der vollkommenen Unabhängigkeit bringen können.“(7)" Duisberg benannte neben dem kraftzehrenden Patentstreit noch folgende Missstände: "ruinöser Konkurrenzkampf, Unarten im Verkauf". (8)

1916 rückte die beiden Dreiergruppen noch näher zusammen, was die Innovationen nochmals beschleunigte, und fusionierten 1925 schließlich zur Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG.

Vistra-Vereinigung

Nachdem in den Jahren 1885-1899 die ersten Fabriken für Kunstseide aus merzerisierten Baumwoll-Linters entstanden, entwickelte ein Werk in Premnitz (1919/1920) eine vollsynthetische Faser aus 'chemisch zersetztem' Holz-Zellstoff. Nach großen Schwierigkeiten, diese Erfindung und die darauf basierten Fasern an den Markt zu bringen, nach einigen Zusammenschlüssen und Übernahmen erfolgte der kooperative Schritt der Vistravereinigung, der schließlich 1929 mit mehreren Baumwollspinnern zu einem Kartel der Markterschließung und Produktentwicklung zusammenwuchs, wobei sich Produktentwicklung auf Halbzeuge, im Wesentlichen Garne bezog.

Verbunden arbeiteten nun Erzeuger und Verarbeiter, also eine Vereinigung von Lieferant und gewerblichen Kunden (*9).
Die Qualität der Zellwollprodukte stand an vorderster Stelle der Gegenseitigkeit der Spinner, auch Gleichmäßigkeit der Faserlieferungen. Gegenstand war der Erfahrungsaustausch zwischen den Verarbeitern und den Zellwollproduzenten. Neue Methoden und Erfahrungen sollten allen zugute kommen, wodurch erhebliche Innovationssprünge und Qualitätssteigerungen in Garnen und Geweben erreicht wurden.

Ziel war die Senkung, also Konkurrenzfähigkeit des Faserpreises durch die Exklusivität von Lieferung und Bezug durch Lieferanten und Verarbeitern. Feste Garnpreise nach außen an die Weber sollte die Lieferkettenstabilität für die nächsten Verarbeiter in der textilen Kette gewährleisten.

Die Vereinbarung verpflichteten die Spinner, alle Kenntnisse und Erfahrungen, dem Hersteller, die spinnrelevanten Eigenschaften der Vistra an alle vereinigten Spinnereien weiterzuleiten, worauf umfangreiche chemo-technischen Produkt- und Verfahrensinnovationen zu Herstellungsverfahren von Mischgarne mit Baumwolle, Wolle, Flachs und Seide, Kreppgarne, Schappegarne, Spinnband, Zwirne und vielen Spezialprodukten für ein Spektrum vom Spitzenkleid bis zur Uniformjacke führte.

7 Jahre später wurde die Vistra-Vereinigung zum Vorbild, wonach die Gesellschaft "unter Beachtung der Konsumentengewohnheiten und des Wandels der Geschmacksrichtungen zweckmäßige und rohstoffsparende Güter" (*10) produzieren sollte.


weiterführende Literaturempfehlungen:
* Hans Dominik, Vistra, das weiße Gold, Leipzig 1936
* Gustav Bodenbender, Zellwolle - Kunstspinnfasern, Berlin 1937
* Robert Bauer, Zellwolle siegt, Leipzig 1937
* H.M. Ulrich, Chemismus, Eigenschaften und Einsatz der textilen Faserstoffe und ihre Prüfung; in: Handbuch der chemischen Untersuchung der Textilfaserstoffe, Wien 1956
* Josip Broz-Tito, Rede auf der ersten Plenarsitzung der zweiten Session des Bundestages, Frankfurt /M 1959
* Dokumente aus Hoechster Archiven, Vorbereitung des Zusammenschlusses der Interessengemeinschaft-Farbenindustrie im Jahr 1904, Nr. 9; Frankfurt /M 1965
* Leszek Kolakowski, Leben trotz Geschichte, Zürich 1977
* Geschichte der Chemiefaserindustrie der DDR, Herbert Bode, Frankfurt /M 1998
* Detlef Kattinger, Die Gotländische Genossenschaft, Wien 1999
* Herbert Bode, Entwicklung von Synthesefasern bei der Phrix AG, Frankfurt /M 2002
* Lars Bluma, Stoffgeschichte: Zellwolle, Mode und Modernität 1920 – 1945; Krefeld 2009
* Angelika Rohmann, Peter Dobias, Ahmet Mehić: Marktwirtschaftliche Transformation in Kroatien; 2015
* Rainer Nowotny, Wege aus Wachstumszwang und Zerstörung, Prenzlau 2021

(1) Rörig und Kattinger weisen darauf hin, dass vor der Hanse die Lübecker Gotlandgilde stand, die Hanse wurde später das Aus dieser Gotlandgilde.
(
2) Freibeuter oder Kaperfahrer, berühmt ist Störtebekers Hinrichtung 1401
(3) zurück zu den Idealen der Gothlandfahrer: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit
(
4) Amir Timurs gilt den Europäern als letzter Kahn mongolischen Plünderungszüge. Den Usbeken gilt er hingegen nicht als Mongole, sondern als turkstämmig und Begründer der usbekischen Nation. Er starb 1405.
(5) Verhandlungsprotokoll 12.01.1904, in: Hoechst-Dokumente
(
6) Brief vom 11.12.1903 an von Brüning, in: Hoechst-Dokumente
(7) Protokoll einer Besprechung der Vorstände 12.01.1904, in: Hoechst-Dokumente
(
8) Denkschrift über die Vereinigung der Teerfarbenfabriken, Elberfekd 1904
(9) siehe Bauer S. 72
(
10) siehe Bluma S.84

Quelle: pixabay.de Quelle: Bundesarchiv: 15769341632901866333599.jpg Quelle: pixabay.de

Quelle: pixabay.de